Andreas Oehlert

Die Wonnen der Gewöhnlichkeit

„Der ist noch lange kein Künstler“, sagt Tonio Kröger in Thomas Manns gleichnamiger Erzählung, „dessen letzte und tiefste Schwärmerei das Raffinierte, Exzentrische und Satanische ist, der die Sehnsucht nicht kennt nach dem Harmlosen, Einfachen und Lebendigen, (…) nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit!“
Nach den drei Protagonisten dieser Erzählung hat der Künstler Andreas Oehlert (geb. 1966 in Fürth) seine beiden ersten Serien farbiger Tuschzeichnungen benannt:
Hans + Ingeborg heißt die erste, Tonio die zweite. Ganz offensichtlich findet er sich in dieser Geschichte wieder, die von einer unerfüllten Liebe, vor allem jedoch vom Verhältnis von Kunst und Leben handelt. Das Eingangszitat spricht vom Konflikt dieser Sphären und wirft zugleich ein Licht auf Andreas Oehlert, der aus der Verbindung des Raffinierten mit dem Harmlosen, des Exzentrischen mit dem Einfachen die Reize seiner Kunst zu gewinnen weiß.
Die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ kostet Oehlert in Skulpturen, Installationen oder Fotos aus, die den Kitsch, das Banale und Wertlose zelebrieren und ihre Raffinesse in der Begrenzung der Mittel und Manipulationen erweisen. Da kann es genügen, einer Keramiknegerin eine Faschingsbrille mit Nase umzuhängen und die flüchtige Skulptur in einem Foto festzuhalten. Es geht dem Künstler nicht darum, das kleinbürgerliche Milieu, aus dem die Fundstücke stammen, lächerlich zu machen. Vielmehr wirkt die Konfrontation des Humoristischen mit dem Exotisch-Erotischen erstaunlich aggressiv, wie ein Übergriff. Ein ganz eigener Effekt geht davon aus, der sich mit Peter Handkes Titel Der gewöhnliche Schrecken treffend charakterisieren lässt. Das Gegenstück, eine zierliche Porzellanfigur mit Hasenkopf, erscheint nur im Kontrast harmloser. Doch auch hier ist das vermeintlich Niedliche von subtilem Horror, als seien die tierisch-menschlichen Zwitterwesen aus Max Ernsts Collageromanen in das coole Zeitalter des Jeff Koons geraten. Es lässt sich eben selbst das Satanische mit dem Gewöhnlichen vermählen.
Dies beweisen auch jene Schlangen, die schlapp aus einem Metallkubus an der Wand hängen und so gar nicht an ihre agilen Artgenossen aus der Laokoongruppe oder die phallischen Versucher aus den Gemälden Franz von Stucks erinnern. Es sind wohl doch eher Türwürste, die dazu dienen, Zugluft zu verhindern. Hier schlägt das Urbild des Bösen ins Harmlose und Gewöhnliche um. Gelesen als Kommentar auf die Makellosigkeit minimalistischer Skulptur, gewinnen die Schlangen jedoch wieder etwas von ihrer ursprünglichen Qualität zurück.
2004, als er ein Jahr lang in der Pariser Cité Internationale des Arts ein Zimmer mit Blick auf die Seine bewohnte, begann Andreas Oehlert mit seinen Tuschzeichnungen, die von Blatt zu Blatt, von Serie zu Serie immer aufs Neue durch ihren schier unendlichen Erfindungsreichtum bestechen. Die feinnervigen, oft verschwenderisch detaillierten Blätter zeigen den Künstler von seiner verletzlichen Seite, ohne Innenansichten zu erlauben, da sie wie aus dem Zeichnen selbst hervorwachsen. Man ist versucht zu sagen: ‚es zeichnet‘. Florales und Abstraktes, Pilze und Punkte bilden ornamentale Strukturen, die aber nirgends zu einem Rapport erstarren. Es entfaltet sich ein wahrer Kosmos der Gespinste und Gewebe, der Blütenstände und Rhizome, der Radiolarien und Wimpertierchen, der Labyrinthe und Feuerwerke.
Mit solchen Zeichnungen auf das Engste verwandt ist die große Installation hit, in der farbige Wollfäden die Tuschlinien ersetzen. Oehlert hat dafür rund 20 Kilometer Kunstwolle in 16 Farbtönen verarbeitet. Je nach Lesart beginnt oder endet die Farbsymphonie als Kakophonie, die Linienkomposition als Urknäuel. Was in der einen Hälfte reiner Farbton ist, zeigt sich in der anderen als haarige Materie, die schwer von der Decke hängt, bevor sich der Farbbrei zum Boden ergießt. Der Kontrast zur filigranen, elegant proportionierten Etagere, die auf dem Kopf steht, könnte größer nicht sein. Ihre Etagen sind perforiert und damit für die Wollfäden durchlässig. „Und jede nimmt und gibt zugleich / und strömt und ruht“: Conrad Ferdinand Meyers Zeilen beschreiben die Wirkung, die an einen umgedrehten Brunnen erinnert. Es verschwindet Farbe um Farbe, bis am Ende nur noch Weiß bleibt.
Von der Dunkelheit zum Licht und wieder zurück. Farbenlehre à la Newton, Goethe, Runge oder Itten ist jedoch nicht die Sache des Künstlers. Vielmehr sortiert er die Farben wie ein Kind seine Bunt- oder Filzstifte. Unbekümmert um alle Theorie flirren die Farben. Sie tauchen auf und verschwinden wieder, um anderen, vielleicht noch schöneren Platz zu machen.
Das Chaos nebenan ist Ursprung oder Ende, auf alle Fälle notwendiges Korrektiv. So wie auch die „Wonnen der Gewöhnlichkeit“ nur genossen werden können, wenn es nicht allein beim Harmlosen und Einfachen bleibt. Niemand weiß dies besser als Andreas Oehlert.

Thomas Heyden

Imprint